Sonntag, 5. Juni 2016

Das Vermächtnis der Feen von Brigitte Endres




Klappentext:
Als Josie ihren Vater in Chicago besucht, platzen verstörende Ereignisse in ihr Leben. Scheinbar zufällig lernt sie Amy kennen, die ihr von einem traumatischen Erlebnis berichtet. Schaudernd stellen die beiden fest, dass sie einen gemeinsamen irischen Vorfahren haben. Aber nicht genug damit, in Gestalt einer Amsel erscheint ein Bote aus dem Reich der Sidhe* und erfleht Hilfe aus größter Bedrängnis. Sein Ruf führt die Mädchen nach Irland, wo Amy kurz nach ihrer Ankunft von dunklen Mächten entführt wird. In dem ehrwürdigen Anwesen Springwood Manor, das eine wertvolle Bibliothek alter Mythen und Epen beherbergt, findet die verzweifelte Josie neue Gefährten. Allen voran Arthur, Spross einer Bardenfamilie. Aber auch Helfer aus einer anderen Realität geben sich ihr zu erkennen. Jetzt erfährt Josie von ihrem magischen Erbe, einem uralten Vermächtnis der Feen, das alle Beteiligten bis heute miteinander verbindet.
Mehr und mehr erkennt sie, dass alles, was in der Welt am Rand der Träume geschieht, von menschlichen Fantasien heraufbeschworen wird!

 *Sidhe, sprich: Schie, sind Wesen aus der irischen Mythologie.

"Das Vermächtnis der Feen" – Eine Reise in das Reich am Rand der Träume.
Für fantasiebegabte Menschen ab 12
Erhältlich bei Amazon.


Leseprobe:
In diesem Textauszug entdeckt Josie nach langem Suchen den Zugang zur Anderwelt.
 


Ein Glockenschlag zerriss das Schweigen und ließ sie zusammenzucken. Ein weiterer Glockenschlag folgte. Ein dritter, ein vierter, ein fünfter, … ein zwölfter. Josie wurde kalkweiß. Die Melodie, die sich aus den Schlägen formte und nun in purpurroten Wellen durch den Raum schwebte, kannte sie gut. Wolf war bereits beim ersten Ton aufgesprungen. Mit zitternden Flanken fixierte er die gegenüberliegende Wand.
Arthur drehte sich um. „Die Uhr!“, stellte er verblüfft fest. „Es ist die Uhr. – Aber wie …? Sie geht doch gar nicht! Ich meine – sie ist nie gegangen!“
Josie starrte auf das Zifferblatt. „Ist es tatsächlich schon Mitternacht?“
Arthur hob seine Armbanduhr. „Erst Elf.“
Josie beobachteten den großen Hund, der ohne Eile die Bibliothek durchschritt. Arthur erhob sich und folgte ihm. Josie kam zögernd nach. Hoch über ihren Köpfen standen die verschnörkelten Zeiger deckungsgleich auf Punkt Zwölf. Darüber leuchtete ein kleiner silberner Vollmond.
„Sogar die Mondphasenanzeige funktioniert wieder“, wunderte sich Arthur. „Versteh ich nicht. Angeblich hat schon mein Urgroßvater versucht, die Uhr reparieren zu lassen. Hat aber bisher noch kein Uhrmacher geschafft. – Oder hat Onkel Aaron jetzt doch noch einen gefunden?“
„Nicht, dass ich wüsste!“ Josie ging die wenigen Schritte zur Terrassentür und sah hinaus. Ein strahlender Perlmuttmond, von unglaublicher Größe, wie ihn Josie noch nie vorher gesehen hatte, blickte auf sie herab.
„Was für ein unwirklicher Mond!“, murmelte Arthur, der ihr nachgekommen war.
„Lughnasadh“, murmelte Josie und ein Gedanke platzte jäh in ihr Bewusstsein. „Heute ist Lughnasadh.“ Sie wurde kreidebleich. „Heute. – Ich muss das Portal finden!“
Arthur sah sie scheu an. „Meinst du das Portal …“
Josie nickte stumm und hoffte, dass Arthur darauf verzichtete, sie mit skeptischen Fragen zu verunsichern. Jetzt hieß es, alles daranzusetzen, nach Narranda zu kommen. Und sie wusste, jeder noch so kleine Zweifel würde dieses Ziel behindern.
Pfotenscharren riss sie aus ihrer Gedankenflut. Wie besessen kratzte Wolf an der Vertäfelung.
„Wolf! Aus!“, wies ihn Arthur zurecht, während er schon auf ihn zulief, um ihn wegzuziehen. „Du ruinierst ja die Schnitzereien!“
Eine ahnungsvolle Erregung überrieselte Josie. „Komisch! – Ich meine, warum kratzt er ausgerechnet hier? Unterhalb der Uhr!“ Ihr Blick tanzte die breite, mit Rosenranken verzierte Halbsäule aufwärts bis zum Zifferblatt. „Sieh nur!“, sagte sie mit bebenden Lippen. „Alle anderen Säulen sind viel schmäler. Warum hat man hier bloß so viel Regalplatz verschenkt?“ Wolf klopfte mit dem Schwanz auf den Boden und jaulte.
Josie seufzte. „Sieht aus, als wolle er uns etwas sagen. – Wenn er doch nur sprechen könnte!“
„Wolf?“ Arthur runzelte die Stirn, was Josie entging, da sie den Hund anstarrte, als wolle sie seine Gedanken lesen.
„Diese breite Säule …“, sagte sie bedächtig. „Ich meine, alte Häuser haben doch oft Geheimtüren.“
Arthur klopfte gegen das Holz. „Schwer zu sagen, klingt zwar massiv, aber …“ Er schüttelte zweifelnd den Kopf.
Fiebernd tastete Josie die Schnitzereien ab. Gab es einen Riegel, einen Schieber, irgendetwas, das auf eine Tür hinwies?
 „Warte!“ Arthur rannte zum Schreibtisch. „Ich hole Onkel Aarons Leselupe. Vielleicht finden wir damit irgendwo einen verborgenen Riegel.“
Josie wartete nicht. Sie streckte sich hoch, so hoch sie irgend konnte. Obwohl ihre Schultern von der starken Streckung höllisch schmerzen, begann sie Blatt für Blatt, Rose für Rose zu untersuchen. Wolf war erneut aufgesprungen, jeder Muskel seines Körper zitterte vor Erregung. Arthur, der befürchtete, der Hund könne erneut seine Krallen wetzen, hielt ihn, bereits die Lupe in der Hand, mit seinem ganzen Gewicht zurück.
Dann schien eine der Knospen unter Josies Fingern nachzugeben. „Da, die hier …!“, rief sie aufgewühlt, und versuchte die geschnitzte Blüte nach rechts zu drehen. Aber es tat sich nichts.
Völlig gegen seine Gewohnheit gebärdete sich Wolf wie ein Verrückter, heulte, warf den Kopf, bebte am ganzen Leib. Josie probierte es mit einer Linksdrehung. Wieder nichts!
„Verdammt!“ Sie donnerte mit der Faust gegen das Schnitzwerk. „Autsch!“ Und während sie sich noch die Hand rieb, enthüllte Springwood Manor sein Geheimnis.

Unter schaurigem Knarren sprang die Rankensäule zur Seite.
Wolf bellte. Ein dunkles, unmissverständlich Beifall bekundendes Bellen.
„Bloody hell!“, stieß Arthur aus.
Josie Gedanken brodelten. Wie konnte das sein? Konnte Moma hellsehen?
Arthur trat einen Schritt vor. „Ich wird verrückt! Er ist wieder aufgetaucht. Ist er nicht wunderschön?“ Ehrfürchtig strichen seine Hände über einen länglichen Stein, der ihn um einige Zentimeter überragte.
„Der Ogham-Stein!“, presste Josie hervor.
Arthur tastete behutsam die eingekerbten Schriftzeichen ab. „Hat dir Onkel Aaron von Conall O’Reardon und dem Stein erzählt?“ Josie nickte abwesend. Arthur ließ kein Auge von dem Fund. „Er ist unglaublich gut erhalten! Wahnsinn! Man hätte eigentlich schon viel früher darauf kommen können, dass er im Haus versteckt sein muss. Conall hat Springwood Manor um den Stein herumbauen lassen. Um das Kernstück des Hauses – die Bibliothek.“
Josie hörte ihm kaum zu. Im Pulsschlag ihres Herzens hämmerte ein Gedanke in ihrem Kopf. Der rechte Ort, das rechte Wort. – Der rechte Ort, das rechte Wort …
„Der Stein ist der Schlüssel“, sagte sie erregt. „Ich muss unbedingt herausfinden, was darauf steht.“
Sie lief zum Couchtisch, wo ihre Großmutter die Bücher abgelegt hatte, mit denen sie ihre Recherche fortsetzen wollte. Kurz darauf saß Josie mit dem Band über Ogham-Steine auf dem Parkett. Sie schlug mit der Handfläche auf den Einband. „Ob wir es schaffen, damit die Zeichen zu entziffern?“
Arthur strich sich ratlos durch die Haare. „Weiß nicht, wird nicht leicht sein. Auch wenn wir die Buchstaben herausfinden. Der Text ist bestimmt altgälisch – und um Orthographie haben die sich früher auch nicht geschert. Sicher sitzen wir in vier Wochen noch hier, wenn wir den Stein dechiffrieren wollen. Wir sollten auf Onkel Aaron warten. Der kennt sich mit der alten Sprache ganz gut aus.“
Josie legte enttäuscht das Buch beiseite. Wolf steuerte auf seinen langen Beinen auf sie zu und stupste sie so fest gegen die Brust, dass sie fast umfiel. „Was soll das alter Knabe?“
Noch während sie sich entrüstet hochrappelte, wurde ihr klar, was der Hund von ihr wollte. Sie sprang auf und zog die Drachenfibel hervor.
„Was machst du da?“ Aber Arthur erhielt keine Antwort. Fassungslos beobachtete er, wie das Purpurherz mit einem Mal eine Funkenkaskade versprühte. Dann sprach Josie wie in Trance die Worte:

Von den Dingen zu den Träumen,
zu den tief verborg’nen Räumen,
möge dieses Tor mich bringen.
Weiche Stein und lass mich ein!

Arthur wollte eben sein Erstaunen kundtun, als etwas so Eigenartiges geschah, dass es ihm die Sprache verschlug.
Josie hatte kaum das letzte Wort gesprochen, da spaltete sich der Stein in zwei Hälften. Ein Gang tat sich auf. Eng, doch breit genug, ihn zu passieren. Wie eine Schlafwandlerin trat Josie durch die Pforte. Und Wolf folgte ihr, als hätte er auf diesen Augenblick nur gewartet.
„Josie! Warte!“, rief Arthur.
Doch bevor er nur daran denken konnte, ihr nachzukommen, fand er sich völlig verwirrt allein in der Bibliothek. Nichts, rein gar nichts wies auf das unfassbare Geschehen hin, dessen einziger Zeuge er war. Keine Spur von einer Öffnung, keine von einem Stein. Die Halbsäule mit den geschnitzten Ranken glänzte im warmen Licht der Stehlampe. Sein Blick wanderte zur Uhr. Punkt Zwölf. Immer noch. Er horchte. Nein, sie tickte nicht. 


Vita:
Brigitte Endres hat Grundschulpädagogik, Germanistik und Geschichte studiert. Heute arbeitet sie als Kinderbuchautorin für Verlage in Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie für den Bayerischen Rundfunk und den RBB. Ihre Bücher wurden in viele verschiedene Sprachen übersetzt.  www.brigitte-endres.de

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